Das Datum und die zwei benannten Orte flößen Angst ein. Kurz vor dem mit dem 14. April 1945 datierten Brief befand sich Ernst Otto Paulus (1915–2010) noch bei Triest und Gorizia (deutsch Görz, slowenisch Gorica) an der heutigen italienisch-slowenischen Grenze. Von wo genau er den Brief verfasste, ist unbekannt. Details zum Frontverlauf zu nennen, war verboten.
Erst kurz vor Kriegsende zogen jugoslawische Truppen am 30. April 1945 in Triest ein. Es folgten alliierte Truppen. Gorizia war schon am 25. April 1945 von jugoslawischen Parisanenverbänden besetzt worden. Der Partisanenkrieg war auf beiden Seiten unsagbar grausam.
Der Brief vermittelt die dramatische Situation des Briefschreibers. Dies kommt in der folgenden Aussage zum Ausdruck: „Ihr Lieben, glaubt ihr wohl, daß wir uns auf Erden nochmals wiedersehen werden? Wenn keine Wendung eintreten wird, dann werde ich diese Hoffnung begraben müssen und was dann kommt? Ob ich aber bis dahin noch leben werde, wissen wir ja alle noch nicht […]“. Eine große Hoffnung blieb dem tiefgläubigen Ernst Paulus in seiner Bedrängnis: „Aber macht Euch bitte um mich keine Sorgen, ändern können wir ja doch nichts, eine Hoffnung wird erfüllt werden und das ist das Wiedersehen in der Ewigkeit […]“. Ernst Paulus hatte, wie Millionen andere Männer, in den Krieg ziehen müssen. Er war 1945 schließlich Oberfeldwebel und Schirrmeister bei der Fliegertruppe. Als solcher war er Fahrlehrer für Lastkraftwagen. In seiner Funktion war er auch für die Verwaltung und Betreuung des Fuhrparks seiner Einheit zuständig.
Der Brief war an seine Eltern Emma Berta Paulus, geborene Pfänder (1883–1970) und Samuel Paulus (1881–1955) sowie seine Tante Karoline Rosine Pfänder (1874–1966) gerichtet, die im gleichen Haushalt lebte. Sie wohnten in der Rosenbergstraße 72 in Stuttgart. Trotz der Angst einflößenden Lage kurz vor Kriegsende spiegelt das Schreiben zuallererst nicht die persönliche Befindlichkeit des Briefschreibers wider. Es ist beeindruckend, wie durchtränkt er von der Sorge um seine Lieben ist. Paulus bedauert, gar nichts mehr zu wissen von „Trudl und Irmgardle“; es sind seine Frau Gertrud Maria Paulus, geborene Unterzuber, und die gerade vier Jahre alt gewordene Tochter Irmgard. So bat er seine Eltern darum, ihr „Schicksal und das meiner Trudi und Irmele recht bald niederzuschreiben“.
Er wolle „aber dem lieben Gott dankbar sein, wenn er mir die Meinen wenigstens am Leben erhielt, sonst haben wir ja doch nichts mehr Irdisches zu verlieren. Wo werden sie leben, wie werden sie wohnen, haben sie wohl das Nötigste, um ihr Leben zu fristen?“ Er sorgte sich, ob die feindlichen Truppen „das Dorf“ schon eingenommen hätten „und welche Schrecknisse sie wohl erlebt haben.“ Offensichtlich war seine Familie in den Geburtsort seiner Mutter nach Hausen am Bach bei Gerabronn (heute Landkreis Schwäbisch Hall) geflohen, um den Bombardements in Stuttgart zu entkommen. Tatsächlich hatte kurz vor dem Tag, als Ernst Paulus den Brief verfasste, am 11. April 1945, ein amerikanischer Panzerspähtrupp Gerabronn eingenommen. Am Abend des 21. April 1945 rückte dann das 152. Infanterieregiment der 1. Französischen Armee kampflos in Stuttgart ein. Nach der schrecklichen Naziherrschaft mit ihrem millionenfachen Mord folgten jetzt Plünderungen und Vergewaltigungen. Erst am 8. Juli 1945 zogen die Franzosen ab und amerikanische Truppen besetzten die Stadt. In der Sorge um seine Familie befand Ernst Paulus in dem Brief: „Alle diese Fragen stürmen täglich auf mich ein, ich bleibe aber ohne Antwort, Post habe ich immer noch keine erhalten. Wie wird es wohl euch Allen ergehen, Ihr meine Lieben?“. So kreisten seine Gedanken um seine Familie; er war in großer Sorge „wie viel Schweres“ den Lieben „wohl die allernächste Zeit bringen“ werde und ob sie „noch stark genug“ wären, „das in ihrem Alter zu tragen“. Aber er machte seiner Familie trotz seiner Lage auch Mut: „Mein Abschied von Euch soll für heute das Wort prägen, nie den Mut zu verlieren und [sich] nicht auf die eigene Macht zu verlassen. Dann wird auch Gott helfen“.
Der tiefe Glaube von Ernst Paulus durchzieht seinen Brief wie ein roter Faden. Sorgenvoll blickte er in die Zukunft und bekundete gleichwohl, dass er dankbar dafür sei, dass ihm seine Eltern „den rechten Glauben ins Herz gelegt“ haben. Er dankte auch „für alle Liebe, die mir durch Euch zuteil wurde“. Und er bekundete: „Ich werde bei mir jede Ohnmacht der Verzweiflung niederdrücken mit der Waffe des Gebets.“ Schließlich verabschiedete er sich in „Dankbarkeit“ von seiner Familie.
Ernst Paulus hat den Krieg unverwundet überlebt. Es war ihm vergönnt, in den Kreis seiner Familie zurückzukehren, seine Frau und seine Tochter wiederzusehen. Es liegt nahe, dass er auch nicht in Gefangenschaft geriet. Offensichtlich konnte sich seine Einheit in den bis zum Kriegsende von deutschen Truppen gehaltenen Korridor in den Alpen zurückziehen oder es war ihm möglich, sich selbst durchzuschlagen. Doch darüber kann nur spekuliert werde, denn Ernst Paulus sprach nie über seine Militärzeit. Nach dem Krieg wurde er in der Gemeinde Stuttgart-Süd zum Priester ordiniert und war viele Jahre lang zusammen mit Elfriede Schall für den Unterricht der Kinder zuständig. Bis in seine letzten Stunden blieb sein Glaube unerschütterlich.