Manchmal schickt einen das Schicksal auf weite Wege. Gerhard Schirrmacher musste gleich mehrere tausende Kilometer hinter sich bringen. Über einen Lebensweg durch halb Europa – mit Anknüpfungspunkt in Wendlingen.
Doch zuerst in die Hauptstraße von Schönbruch. Dort, im Haus Schneewitz, fanden die Gottesdienste statt. In diesem Haus wuchs Gerhard Schirrmacher als Jüngster von fünf Brüdern auf. Seine Eltern hießen Gustav Schirrmacher (1892–1945) und Marie, geborene Dingel (1894–1975). Im Adressbuch der Neuapostolischen Kirche 1932 wurde die Gemeinde das erste Mal erwähnt: Schönbruch hieß der Ort im Landkreis Bartenstein (heute Bartoszyce, Polen), in Ostpreußen. Nach dem Krieg wurde Schönbruch in das polnische Szczurkowo und das russische Schirokoje geteilt. Als der Zweite Weltkrieg mit dem Überfall auf Polen am 1. September ausbrach, war der am 5. Februar 1929 geborene Gerhard zehn Jahre alt. An diesem Tag spielte er im Sandkasten vor dem Küchenfenster. Er sah seine Mutter weinen: „Wir haben wieder Krieg“. Die Brüder Erich und Artur starben beide schon 1941. Ein weiterer Bruder namens Fritz fiel 1944 in Frankreich.
Die Offensive der Roten Armee ab dem 12. Januar 1945 führte bis Ende Januar dazu, dass Ostpreußen vom restlichen Deutschen Reich abgeschnitten wurde. Drei Tage vor dem 16. Geburtstag von Gerhard, am 2. Februar 1945, marschierten die russischen Soldaten in Schönbruch ein. Alle Bewohner mussten antreten. Vater Gustav verabschiedete sich von Gerhard mit den Worten „Wir sehen uns nicht mehr wieder“. Er hatte es geahnt, denn schon am 12. September 1945 starb er in einem Lager, wohl an Typhus. Gerhard musste zu Fuß mit anderen Jugendlichen in das 15 Kilometer entfernte Friedland (heute Prawdinsk, Oblast Kaliningrad, Russland) gehen. Mitte Februar wurde er dann mit dem Zug nach Insterburg (heute Tschernjachowsk, Oblast Kaliningrad, Russland) gebracht. Mit Viehwaggons ging die Fahrt schließlich nach Wilna (Vilnius, heute Litauen).
Gerhard war einer von Hunderttausenden deutschen Zwangsarbeitern, die 1944/45 in die Sowjetunion verschleppt worden waren. Der Zug bestand aus fünf bis sechs Wagen, wobei der erste Wagen hinter der Lokomotive der Leichenwagen war. Täglich gab es Tote während der etwa sechs Wochen dauernden Fahrt in das 300 Kilometer entfernte Wilna. Die Versorgung war katastrophal. Gerhard trug die Leichen in den dafür vorgesehenen Wagen und konnte dabei Wasser aus dem Wassertank der Lokomotive trinken. Dann ging die Fahrt weiter über Charkow (heute Charkiw, Ukraine) nach Nowokuibyschewsk. Hier wurden die Verschleppten entlaust. Der Transport bestand aus etwa 280 Verschleppten, etwa die Hälfte waren Jugendliche. Es waren auch Frauen dabei, darunter ein Mädchen im Alter von etwa zwölf Jahren und ein Mann mit 76, der nur noch ein Bein hatte. In der Erinnerung von Gerhard starben täglich Menschen an Unterernährung, Wassermangel und den schlechten hygienischen Verhältnissen in den Viehwagen.
Schließlich kamen sie in Samara an der Wolga an. In diesem Raum lebten bis zur Deportation 1941 auch deutsche Mennoniten. In Samara mussten die Zwangsarbeiter Lehm stechen. Dort gab es wieder täglich etwa 20 bis 30 Tote. Gerhard bekam Typhus mit hohem Fieber und wog schließlich nur noch 35 Kilogramm, aber er überlebte. Etwa im September 1945 ging das Gerücht, man würde nach Hause fahren. Doch die Fahrt führte nach Belorezk im südlichen Ural, dreieinhalbtausend Kilometer von Berlin entfernt. Viereinhalb Jahre musste Gerhard hier arbeiten, in der Eisenverhüttung, im Stahlbau und im Walzwerk. Oft fragte er andere Lagerinsassen nach ihrem Glauben, aber niemand war neuapostolisch wie er.
Endlich, am 2. Oktober 1949, begann der Heimtransport. Doch sein Heimatdorf war jetzt polnisch und russisch. Die Route führte über Samara, Tula, Smolensk, Minsk (heute Weißrussland), Posen (Poznań, Polen) nach Eisenach an die Zonengrenze. In Eisenach besuchte er den ersten Gottesdienst nach der Verschleppung. Schließlich kam er nach Mauern, Landkreis Freising. Dort wohnte sein noch lebender, ältester Bruder Kurt mit seiner Frau in einem 13 Quadratmeter großen Zimmer. Kurt war vier Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft gewesen. Gerhard zog schließlich 1950 nach Freising und heiratete 1958 Ilse Wessolowski. Der zu 60 Prozent schwerbehinderte Gerhard Schirrmacher arbeitete bis 1989. Am 12. April 2014 ist er im Alter von 85 Jahren verstorben. Sein einziges und wertvollstes Dokument aus der Zeit der Verschleppung war: Der Passierschein in die Freiheit.
Doch was hat diese Lebensgeschichte mit der Region Stuttgart zu tun? Die Tochter von Gerhard Schirrmacher verheiratete sich mit einem Mann aus Wendlingen. Sein Großvater Karl Friedrich Gökeler (1898–1971) war am 1. Januar 1919 neuapostolisch geworden und wurde später Vorsteher der Gemeinde in Wendlingen.